Mensch und Staat. Erfahrungs- und kommunikationsgeschichtliche Perspektiven

Mensch und Staat. Erfahrungs- und kommunikationsgeschichtliche Perspektiven

Organisatoren
Institut für Geschichte und Biographie, FernUniversität Hagen
Ort
Hagen
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.09.2014 - 20.09.2014
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Von
Dennis Möbus, Institut für Geschichte und Biographie, FernUniversität Hagen

Die vom „Institut für Geschichte und Biographie“ der FernUniversität Hagen organisierte Tagung verfolgte das Ziel, die Wahrnehmung staatlicher Ordnungen aus der Perspektive der Bevölkerung gleichsam „von unten“ zu beleuchten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wurden Vorträge aus den Fächern Geschichte, Ethnologie und Soziologie beigesteuert; als zeithistorischer Bezugsrahmen und als empirische Referenz dienten die westdeutsche Bundesrepublik, die DDR sowie die zweite österreichische Republik.

Eröffnet wurde die Tagung vom Prodekan der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität Hagen, dem Soziologen FRANK HILLEBRANDT (Hagen). Ihm gelang es, der Tagung eine prägnante soziologische Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Staat als Folie voran zu stellen. Dazu gehörte auch ein historischer Abriss über die Idee des Staats und die Erkenntnis, dass aus dem Idealkonstrukt des Staats als Garant der Verwirklichung von Sicherheit, Glück und Wohlfahrt, zunehmend die Realität des auf die eigene Selbsterhaltung und Machtausbau fokussierten territorialen Nationalstaats hervorgegangen sei.

Der Gastgeber ARTHUR SCHLEGELMILCH (Hagen) erläuterte in seinem Einführungsvortrag das Erkenntnisinteresse der Konferenz und zeigte verschiedene Zugangsmöglichkeiten auf. Der Perspektive der Wahrnehmung und Verarbeitung staatlicher Präsentationsformen und Handlungsweisen durch die Bevölkerung könne man nur auf der Ebene interdisziplinärer Zusammenarbeit auf die Spur kommen, wobei der jeweilige historische Kontext, hier die Neuformierung dreier Staats- und Gesellschaftsordnungen nach 1945, zu berücksichtigen sei. In seinem Sachstandsbericht zum aktuellen Forschungsstand verwies der Referent namentlich auf die Kulturgeschichte des Politischen, die historische Emotionsforschung und die Zivilgesellschaftsforschung, ferner seien die politische Psychologie bzw. die historische Psychoanalyse geeignete Partner auf dem Weg zur Entwicklung eines geeigneten hermeneutischen Zugangs zu den Quellen.

In der ersten, von Alexander von Plato (Neuenkirchen) moderierten Sektion zu lebensgeschichtlichen Aspekten des Verhältnisses von Mensch und Staat referierten Christian Th. Müller, Peter Becker und Steffen Otte über das Militär, das Amt und das Alter als wichtige Kreuzungspunkte.

CHRISTIAN TH. MÜLLER (Potsdam) widmete sich den mentalitätsgeschichtlichen Aspekten und subkulturellen Ausprägungen des Soldatenlebens in Bundeswehr und Nationaler Volksarmee. In Anlehnung an Erving Goffmans Konzept der „totalen Institution“1 arbeitete der Referent die – in Ost und West teilweise frappierend ähnlichen – Spezifika des von der Gesellschaft weitgehend abgeschnittenen Kasernenlebens heraus, wies auf Widersprüche zur öffentlichen Selbstdarstellung hin und rekonstruierte, unter anderem anhand von Fotografien, den individuellen Umgang mit dem militärischen Erfahrungsraum unter Berücksichtigung von Ausgeliefertsein, Abgeschiedenheit und Deprivation, von denen ehemalige Soldaten auch in ihren Träumen immer wieder heimgesucht würden. Gerade diese seien allerdings von der geschichtswissenschaftlichen Forschung bisher viel zu wenig beachtet worden und könnten mit Hilfe psychologischer/psychoanalytischer Grenzgänge als innovatives empirisches Experimentierfeld fruchtbar gemacht werden.

PETER BECKER (Wien) referierte über die Umgangsformen zwischen Bürgern und Amtspersonen in Österreich und verwies vor allem auf das Spannungsverhältnis von Emotionalisierung und Sachlichkeit im persönlichen Umgang. Als Quellen legte er Eingaben von Bürgern an den Staat zugrunde. Neben der heuristischen Herausforderung, aussagekräftige Fälle von Kommunikation zwischen Mensch und Staat zu rekonstruieren, stand die Analyse sprachlicher Ausdrucksformen im Mittelpunkt des Vortrags. Zu beobachten seien Phänomene des „diskursiven Verhandelns rechtlicher Grenzen“, freilich vor dem für die klagende Seite unvorteilhaften Hintergrund, dass Amtsleute sich in einer „objektiven Machtposition“ sähen. Anhand von Prozessen wegen Beamtenbeleidigung konnte Becker zeigen, dass das Kommunikationsverhältnis bzw. dessen Machtbalance meist einseitig und von subjektiven Befangenheiten bestimmt gewesen sei. Eine in der Diskussion weit geteilte Einsicht war, dass die humorvolle und satirische Reflexion gesellschaftlicher Umstände – Becker gelang es, durch das Zitieren ironischer Marginalien aus einzelnen Eingaben, mehrmals für Lacher zu sorgen – in der Geschichtswissenschaft allzu verhalten als (z.B. mentalitätsgeschichtliche) Quelle genutzt werde.

Im Gegensatz zu Becker beurteilte STEFFEN OTTE (Hamburg) die von ihm untersuchte Eingabepraxis von DDR-Rentnern als funktionierende Kommunikation zwischen „oben“ und „unten“. Als Gegenstand dienten ihm die Forderungen der „Arbeitsveteranen“ nach einer Aufhebung der geltenden Beitragsbemessungsgrenze und einer Dynamisierung des Rentensystems, denen schließlich seitens der SED nachgegeben worden sei. Allerdings habe sich daraufhin das Konfliktpotential hin zu den rivalisierenden Gruppen der Neu- und Altrentner verschoben. Da auch diesem Anpassungsdruck mit der Rentenreform von 1971 begegnet werden konnte, konstatierte Otte eine erfolgreiche, die Antragsteller Ernst nehmende Beamtenpraxis.

Die zweite Sektion war dem Thema „Staat als Heimat“ gewidmet und zeichnete sich durch eine konsequente Umsetzung der komparatistischen Perspektive auf BRD, DDR und Österreich aus. Die Moderation übernahm Ewald Grothe (Wuppertal).

Den Anfang machte JOHANNA GEHMACHER (Wien) mit der Erörterung des Umgangs mit den differierenden Begriffen „Staat“ und „Nation“ in Österreich nach 1945. Anhand des eindrücklichen Beispiels der Formulierung der neuen Nationalhymne, griff sie unter anderem gendertheoretische Aspekte auf, so etwa den, dass der belastete Nationsbegriff im Liedtext zur „Heimat der großen Söhne Österreichs“ umgedichtet worden sei. Statt von einer National- wäre nunmehr von einer „Bundeshymne“ gesprochen worden. Anhand von demoskopischen Daten legte Gehmacher anschließend ein empirisch gesättigtes Bild des öffentlichen Umgangs mit den Konzepten Heimat, Staat und Nation vor. Darin habe sich vor allem die offizielle, maßgeblich durch Geschichtspolitik evozierte Vorstellung einer österreichischen Kulturnation widergespiegelt. Dieser könnten Historiker auch durch Auswertung narrativer Interviews habhaft werden, um die Verankerung des Konzepts in der persönlichen Lebenswelt herauszuarbeiten.

MICHAELA FENSKE (Göttingen) unternahm mit Blick auf die Bundesrepublik der 1950er-Jahre den Versuch, in den Briefen einfacher Bürger an Politiker das Konzept „Heimat“ greifbar zu machen. Im Mittelpunkt stand das Prinzip der „Selbstbeheimatung“, das nach Fenske als Antwort auf die lebensweltlichen Anforderungen der nach dem Krieg zu leistenden Aufbau- und Orientierungsanstrengungen entstanden sei. Die ihrer Untersuchung zu Grunde liegenden brieflichen Quellen begriff sie als „Möglichkeitsräume“ und „Mittler zwischen Mensch und Staat“ – einschließlich ihrer reziproken Eigenschaft, den Staat durch den Menschen und den Menschen durch den Staat zu formen. Das sei möglich gewesen, da das Schreiben die einzige alltagskompatible Teilhabe am Staat neben dem Akt des Wählens gewesen sei und im Gegensatz zu letzterem einen Akt der Kommunikation eingeschlossen habe: Die Briefe wurden in der Regel beantwortet und seien durchaus in der Lage gewesen, die persönliche Situation, um deren Besserung es oftmals ging, tatsächlich zu beeinflussen. Somit sei neben der Strategie der „Selbstbeheimatung“ durch das Schreiben auch das Wohlbefinden der Bürger gestärkt worden; das in den Briefen teilweise aufscheinende Bild des Ministerpräsidenten als „gutem Herrscher“ sei insofern keine abwegige Analogie gewesen.

Die Sektion wurde abgerundet durch ARTHUR SCHLEGELMILCHs (Hagen) Beitrag zur DDR als dem „wahren Vaterland des Volkes“. Dem Vortrag wurde die analytische Trennung der Begriffe Heimat und Vaterland in der DDR vorangestellt. „Heimat“ hätte demnach eine eher lokal-geographische Funktion gehabt, „Vaterland“ hingegen das politisch-soziale Handlungs- und Interaktionsfeld einschließlich des Mensch-Staat-Verhältnisses bezeichnet. Im weiteren Verlauf zeichnete der Referent die Entwicklung insbesondere des Heimatkonzepts nach, welches ab Mitte der 1950er-Jahre eine Entpolitisierung durchlaufen habe. Anhand diverser literarischer Beispiele stellte er den Umgang mit Identitätssuche und Orientierung zur Diskussion und griff dabei unter anderem auf den Begriff der „Paradiesordnung“ bei Christa Wolf wie auch bei Brigitte Reimann zurück. Letzterer sei es mit der Frage „Kann man in Hoyerswerda küssen?“ gelungen, zeitweilig sogar einen kritischen Diskurs über Fragen der Beheimatung unter den Bedingungen des sozialistischen Städtebaus anzuregen – bis die SED die Kontrolle übernommen und das politisch-ideologische über das emotionale Heimatverständnis gestellt habe.

In der dritten Sektion – Moderation: Brigitta Schmidt-Lauber (Wien) – wurde das Verhältnis von Mensch und Staat aus einer konsumgeschichtlichen Perspektive beleuchtet.

Zunächst eröffnete KASPAR MAASE (Tübingen) die Sektion mit einem breit angelegten Vortrag über den Zusammenhang von Konsum, individueller Freiheit und Demokratisierung. Beginnend im 19. Jahrhundert, zeichnete Maase die zunehmende Ökonomisierung des Tauschprozesses nach, die sich im demokratischen Mittel des Preisvergleichs offenbart habe. Durch eine zunehmende „Entbettung“ des Kaufens (Karl Polanyi, Anthony Giddens)2, vor allem repräsentiert durch Einheitspreisläden im frühen 20. Jahrhundert, sei es zu einer anhaltenden Entkopplung von Preis und Warenqualität gekommen. Von einer „Demokratisierung des Einkaufens“ könne man erst mit der flächendeckenden Etablierung von SB-Läden sprechen, freilich auf Kosten anderer Aspekte wie Beratung, Sozialkultur, persönliche Mikro-Kredite („Anschreiben lassen“). Neben dieser aufschlussreichen, supranationalen Hinführung zum Sektionsthema, machte Maase durch die Verwendung aussagekräftiger Fotografien auf deren Potential als geschichtswissenschaftliche Quellen aufmerksam.

OLIVER KÜHSCHELM (Wien) legte den Fokus anschließend auf Österreich und rückte das Verhältnis von Konsument und Staat in den Mittelpunkt. Er stellte seinem Vortrag die erkenntnisleitende Frage voran, inwiefern und auf welche Weise es der zweiten Republik gelungen sei, den Bürger als Konsumenten an sich zu binden. In der Beantwortung dieser Fragestellung verknüpfte Kühschelm lebensgeschichtliche Quellen und Metadaten, präziser: Kurzautobiographien und demoskopische Erhebungen. Dadurch ergab sich das Bild eines durch Wohlfahrtsangebote legitimierten Staats, der Konsumenten mit Hilfe nationaler Narrative moralisch an sich zu binden vermocht habe. Auch in lebensgeschichtlichen Interviews und Autobiographien sei das Konsum- und Wohlstandsnarrativ stark vertreten gewesen. Ganz im Sinne der Emotionsgeschichte ging Kühschelm diesbezüglich auch auf die „gefühlsmäßig Basis“ ein, die sich durch affirmatives Verhalten seitens der Bevölkerung in Zeiten steigenden Konsumniveaus ausgedrückt habe. Das sei wiederum vom Staat genutzt worden, um sich über konsumfreundliche Politik zu profilieren.

MANUEL SCHRAMM (Chemnitz) beendete die Sektion mit einem Blick auf die DDR und betonte ebenfalls die Bedeutung des staatlich garantierten Konsums für den Alltag der Menschen und die Stabilität des politischen Systems. Dazu gebrauchte er die Revolutionstheorie James Davies' und zog große Parallelen, beispielsweise zwischen der Wende von 1989 und der amerikanischen Revolution. Ungeachtet der Problematik eines solchen Vergleichs kam Schramm zu plausiblen Schlussfolgerungen, beispielweise im Hinblick auf die Rolle von Konsumforderungen im Rahmen der „friedlichen Revolution“ von 1989/90.

Durch die bedauernswerte Absage Paul Kaisers als Referent über die „Kunst als Kommunikationsraum zwischen Mensch und Staat“, stand der abschließende Beitrag von FRANK HAGER (Hagen), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Institut für Geschichte und Biographie“, in der von Carsten Heinze (Hamburg) moderierten Sektion für sich.

Hagers innovativer Zugang zeichnete sich dadurch aus, Architektur als „Kommunikationsraum zwischen Mensch und Staat“ zu begreifen. Den Ausgangspunkt bildeten Diskurse um die Stadtplanung in der frühen DDR, dargestellt vor allem am Beispiel des Architekten Hermann Henselmann – bekannt durch die Neukonzeption einiger der markantesten Gebäude der Stalinallee in den 1950er-Jahren. Henselmann habe damit fortan als einer der ersten und bedeutendsten Vertreter des Sozialistischen Realismus in der Architektur der DDR gegolten. Hager zeigte, dass die von der Staatsführung propagierte Vorstellung eines „dialektischen Prozesses der architektonischen Theoriegrundlegung“ eine Illusion gewesen sei und dass – wie auch schon dem Beitrag Arthur Schlegelmilchs zu entnehmen war – die sozialistische Stadtplanung weder durch wirkliche Mitbestimmung noch durch eine kritiklose Rezeption durch die Bewohner geprägt gewesen sei. In der anstehenden Dissertation des Referenten steht daher die Reichweite der gemeinschaftsorganisierenden Funktion von Städtebau und Architektur im Staatsozialismus ostdeutscher Prägung im Mittelpunkt des Forschungsinteresses.

Die Beiträge wurden sämtlich gut angenommen und in einer inspirierten und interessierten Atmosphäre diskutiert. Es bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass die Vorträge und Diskussionen der Tagung wichtige Erkenntnisse zur Erforschung des Verhältnisses von Mensch und Staat geliefert haben, auf denen aufgebaut werden kann. Zweifellos hat sich das Konzept des „Staats als Erfahrungs- und Kommunikationsraum“ grundsätzlich als empirisch belastbar herausgestellt. Auch die bewusst offen gewählten Kategorien „Mensch“ und „Staat“ wurden immer wieder erkenntnisfördernd aufeinander bezogen. Perspektivisch stellt sich die Frage, mit welchen Konzepten von Staat und Staatlichkeit interdisziplinär am erfolgreichsten gearbeitet werden kann und welche Kommunikations- und Handlungsräume empirisch besonders gut erfasst werden können. Hierzu müssten dann gewiss auch Gender-Aspekte gehören, die auf der Tagung deutlich zu kurz kamen.

Konferenzübersicht:

Frank Hillebrandt (Hagen), Begrüßung

Arthur Schlegelmilch (Hagen), Einführung

Christian Th. Müller (Potsdam), Militär im Leben – Leben im Militär. Staatsbürger und Streitkräfte im geteilten Deutschland

Peter Becker (Wien), „… der Beamte im Dienst hat – so wie der Papst in Glaubensfragen – immer recht.“ Die Ehre der Verwaltung und der Unmut der Bürger in der Zweiten Republik

Steffen Otte (Hamburg), Rentner im Arbeiter- und Bauerstaat – Randgruppe in einer arbeitszentrierten Gesellschaft?

Johanna Gehmacher (Wien), „Österreichs Söhne“ und die „Töchter der Zeit“. Geschichtspolitik und die Inszenierung nationaler Identität als Projekt politischer Eliten

Michaela Fenske (Göttingen), Schreiben als Strategie der „Selbst-Beheimatung“ – Briefe an Politiker und politische Institutionen in der Bundesrepublik nach 1945

Arthur Schlegelmilch (Hagen), Die DDR als das „wahre Vaterland des Volkes“?

Kaspar Maase (Tübingen), Die Freiheit, gut einzukaufen. Zum historischen Zusammenhang von Konsumkultur und Demokratieverständnis

Oliver Kühschelm (Wien), Österreich und seine Konsumenten. Eine Beziehungsgeschichte (1945-1980)

Manuel Schramm (Chemnitz), Die „Wende“ von 1989 als Konsumrevolution

Frank Hager (Hagen), Architektur und Stadtplanung in der SBZ und frühen DDR. Kommunikationsräume im Spannungsfeld zwischen Mensch und Staat

Anmerkungen:
1 Vgl. Christian Th. Müller, Tausend Tage bei der "Asche": Unteroffiziere in der NVA, Berlin 2003, S. 155f.
2 Vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main 1995, S. 88f., 102; und Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1990, S. 33f.